FRANKFURT, 15.09.2023

Bildungsteilhabe? „Das ist beschämend!“

Beim Tag der Bildung diskutierten Expertinnen und Experten auf Einladung des Bistums Limburg darüber, warum es um die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland schlecht bestellt ist und was dagegen getan werden kann. Dabei kam es zu emotionalen Szenen.

Wann denn ihrer Meinung nach endlich Bildungsgerechtigkeit hergestellt werden könnte, wurde Lehrerin und Autorin Lisa Graf gefragt. „Nie“, lautete ihre realistisch-verdrossene Antwort beim Polittalk „Faire Bildungsteilhabe – wo klemmt es?“, zu dem das Bistum im Rahmen des Kreuzfestes in die Jugendkirche Crossover nach Limburg eingeladen hatte.

Das sahen nicht alle so. Grafs Gesprächspartner auf dem Podium waren der hessische Staatssekretär Dr. Manuel Lösel, Generalvikar Dr. Wolfgang Pax, der Frankfurter Bildungsforscher Professor Dr. Julian Garritzmann sowie Ralf Stammberger, im Bistum Bereichsleitung Pastoral und Bildung. Dabei fand Graf deutliche Worte und prangerte Missstände offen an. „Beim Fachkräftemangel gucken wir darauf, wie wir Menschen aus dem Ausland holen, dabei müssen wir nur schauen, welche Menschen wir hier an Hauptschulen haben – wir verschenken dort unendlich viel Potenzial“, sagte sie zum Beispiel. Fachkräftemangel auf der einen Seite, unvermittelbare Schulabgänger auf der anderen: „Das sind Kinder und Jugendliche, die Potenzial haben, aber wir lassen sie verkümmern“, ärgerte sich Lisa Graf, die als Lehrerin an einer Hauptschule arbeitete und darüber das Buch „Abgehängt“ schrieb, in dem sie unter anderem auch eine fehlende Feedbackkultur unter Lehrkräften kritisiert. Stattdessen landeten viele nach der Schulpflicht und vielleicht einem Anlauf im Berufsleben im Bürgergeld. „Die Wahrheit ist, dass viele von ihnen nach der siebten oder achten Klasse als abgemeldet gelten.“ Ihr Urteil: „Der Hauptschulzweig passt nicht mehr zu unserer modernen Arbeitswelt, er stammt aus Zeitalter der Industrialisierung. Dass es ihn überhaupt heute noch gibt, ist beschämend!“

Dorthin, wo es wehtut

Das wollte Staatssekretär Lösel so nicht stehenlassen. „Gerade deswegen machen wir doch unheimlich viel für Hauptschulen, wir haben multiprofessionelle Teams und 1100 Sozialpädagogen allein an die Schulen in Hessen gebracht, dorthin, wo es weh tut“, hielt er dagegen. Normalerweise sei das Sache der Schulträger, aber das Land Hessen wolle noch zusätzliche Unterstützung und den Schulen die Möglichkeit geben, zu sagen, wo Ressourcen gebraucht werden. Auch gebe es an Hauptschulen sogenannte Familientage, an denen die Familien einen Tag in der Schule dabei seien, um selbst zu sehen, wie wichtig Schulbildung sei. „Wir müssen die Eltern in die Verantwortung nehmen“, so Lösel.

Lehrerin Lisa Graf sah das anders und pochte darauf, dass eben nicht die Eltern in der Verantwortung stehen sollten, sondern die Schule – Ganztagesunterricht muss in ihren Augen nicht nur verpflichtend, sondern auch „rhythmisiert“ sein. Das bedeutet, dass die Unterrichtszeit sinnvoll auf den Vor- und Nachmittag verteilt wird, um ein angemessenes Verhältnis von Anspannungs- und Entspannungsphasen sowie frei gestaltbare Zeit für die Kinder zu schaffen. „Diese Art von Ganztagsunterricht muss verpflichtend werden, sonst verkommt der Nachmittag zur reinen Freizeitbespaßung“, forderte sie. Eltern, die es sich leisten könnten, nähmen ihre Kinder ohnehin aus dem jetzigen Nachmittagsprogramm heraus, um die Zeit für bessere Bildung zu nutzen. „Ich finde es fatal, wenn man sich mit Ganztag schmückt, obwohl man es nicht konsequent durchzieht“, schimpfte sie in Richtung Lösel.

Glücklich = privilegiert

Der reagierte darauf mit den Worten, er möge nicht für sich in Anspruch nehmen, „den Schulgemeinden dort draußen zu erklären, was für sie gut ist: Wir lassen jede Schulgemeinde in Hessen selbst entscheiden und geben ihr dafür die Ressourcen.“ Er wisse von Schulen, die sehr glücklich damit seien, dass sie frei entscheiden können. Graf parierte: „Wenn wir den Glücklichen zuhören, hören wir den Privilegierten zu. Ich finde, es ist sich zu einfach gemacht, wenn man an Schulen geht, an denen es gut läuft, und zufrieden wieder weggeht.“

Regine Eiser-Müller, Leiterin der Limburger Tilemannschule, saß im Publikum und unterstützte mit einer Wortmeldung Grafs Haltung: „Sechs Stunden Vormittagsunterricht sind nicht mehr zeitgemäß, die Kinder und Jugendlichen haben heute die Konzentration nicht mehr. Wir brauchen Regelunterricht bis vielleicht drei Uhr nachmittags, danach ein freiwilliges zusätzliches Angebot. Alle europäischen Länder um uns herum haben das, die Eltern wünschen es sich ebenfalls, da müssen wir hinkommen.“ Einen anderen Ansatz verfolgte die emotionale Wortmeldung einer anderen Zuhörerin: „Wir brauchen nicht nur kognitive Bildung, sondern auch Herzensbildung als Schulfach“, lautete ihre Forderung.

Dass der verheerende Fachkräftemangel in so gut wie allen Berufsspaten die angespannte Situation vervielfacht, darüber waren sich alle Podiumsteilnehmenden einig. Staatssekretär Lösel sprach gar von „Menschenmangel“ und berichtete von Agenturen, die in Ländern wie der Türkei potenzielle Arbeitskräfte anwerben und qualifizieren würden, um sie anschließend, mitunter mit gleich mehrjährigen Verträgen, nach Deutschland zu holen. Bei Arbeitsmigration, fügte sein Sitznachbar Ralf Stammberger an, sei es ganz wichtig, den Menschen auch sozialen Anschluss zu bieten, um den Menschen ein gutes Ankommen und Bleiben zu ermöglichen. Dabei kann die Kirche helfen: „Wir versuchen, die Netzwerke in unseren muttersprachlichen Gemeinden dafür zu nutzen“, so Stammberger.

Frühkindliche Bildung als neuralgischer Punkt

Das von Dr. Dewi Suharjanto und Dr. Thomas Wagner von der katholischen Akademie Rabanus Maurus in Frankfurt moderierte Podiumsgespräch gliederte sich in die drei Teile Kita, Grundschule und weiterführende Schule. Dabei machten die Expertinnen und Experten die frühkindliche Bildung als neuralgischen Punkt von Bildungs(un)gerechtigkeit aus. Bildungsforscher Professor Dr. Julian Garritzmann sagte, Deutschland schneide im internationalen Vergleich am schlechtesten ab bei der Bildungsgerechtigkeit – wobei es einen starken Zusammenhang mit dem unterschiedlich situierten Elternhaus von Kindern gebe. „Einer der Hauptfaktoren ist, dass wir ganz lange in Deutschland keine frühkindliche Bildung betrieben haben“, betonte er. In anderen Ländern, vor allem Skandinavien, nähmen zwischen 80 und 90 Prozent der Kinder frühkindliche Bildung in Anspruch, bei uns 40 bis 45 Prozent. Grund dafür sei auch der Fachkräftemangel, wegen dem es zu wenige Betreuungsplätze für Unter-Dreijährige gibt. Gefragt, was das Bistum als großer Kita-Träger gegen Fachkräftemangel tue, sagte Generalvikar Pax, es gäbe große Anstrengungen, dem zu begegnen, zum Beispiel, indem man heute, anders als früher, angehenden Erzieherinnen und Erziehern bereits im ersten Ausbildungsjahr ein Ausbildungsgehalt zahle.

Eingerahmt wurde der Abend in der Jugendkirche Crossover von Szenen und Liedern des Improvisationstheaters IMPRO 13. Die Diskussionsveranstaltung war der Abschluss eines Tages mit Workshops für Lehrerinnen und Lehrer zu Themen der Bildungsgerechtigkeit.

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